Gestaltung des Kompetenzniveaumodells für Unternehmen und Organisationen

Warum Manager intelligent sein sollten – und warum das alleine nicht reicht

„Wir geben Unsummen für Assessment-Tools aus, aber am Ende entscheiden wir doch wieder nach Bauchgefühl.“ Dieses frustrierte Zitat eines HR-Managers aus der Automobilindustrie (Kanning, 2017) bringt ein Dilemma auf den Punkt, das viele Personalentscheider kennen: Trotz aufwendiger Diagnostik bleibt die Besetzung von Führungspositionen oft eine Blackbox. Ein Grund dafür liegt in der häufig undifferenzierten Betrachtung der Anforderungen an Führungskräfte. Gerade in Zeiten komplexer werdender Unternehmensstrukturen und dynamischer Märkte ist es jedoch entscheidend, die unterschiedlichen Kompetenzniveaus zu verstehen und in der Personalarbeit zu berücksichtigen. Dieser Blog-Artikel beleuchtet den aktuellen Wissensstand zu diesem Thema und zeigt auf, wie Unternehmen und Organisationen ein praxisorientiertes Kompetenzniveaumodell gestalten können, das den Herausforderungen moderner Führung gerecht wird.

 

Mythos Bauchgefühl vs. Wissenschaftliche Evidenz: Warum wir objektive Kriterien brauchen?

In vielen Unternehmen hält sich hartnäckig der Mythos, dass erfahrene Manager „den Richtigen“ für eine Führungsposition schon mit dem richtigen „Bauchgefühl“ erkennen. Diese intuitive Herangehensweise mag in Einzelfällen zum Erfolg führen, ist aber angesichts der Tragweite von Fehlbesetzungen in Führungspositionen schlichtweg unprofessionell und riskant. Die Realität zeigt: Auch erfahrene Manager irren sich oft, und „Bauchgefühl“ ist kein valides Instrument zur Personalauswahl (Kanning, 2017).

Die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte liefert jedoch klare Evidenz dafür, dass bestimmte Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale Führungserfolg signifikant beeinflussen (Bartram, 2005; Ones & Dilchert, 2009). Anstatt sich auf subjektive Eindrücke zu verlassen, sollten Unternehmen daher auf objektive Kriterien und validierte Instrumente setzen, um die bestmöglichen Führungskräfte auszuwählen und zu entwickeln. Dies beginnt mit einem differenzierten Verständnis der komplexen Anforderungen an Führungskräfte auf verschiedenen Hierarchieebenen.

 

Differenzierte Anforderungen auf verschiedenen Hierarchieebenen: Das Leadership-Pipeline-Modell

Ein besonders hilfreiches Modell, um die unterschiedlichen Anforderungen an Führungskräfte zu strukturieren, ist das Leadership-Pipeline-Modell von Charan, Drotter und Noel (2001). Dieses Modell beschreibt sechs kritische Übergänge („Passagen“) oder Hierarchieebenen, die Führungskräfte im Laufe ihrer Karriere typischerweise durchlaufen. Jede Passage stellt eigene Anforderungen an Kompetenzen, Fähigkeiten und Werte, und der Übergang von einer Passage zur nächsten erfordert einen signifikanten Wandel in der Art und Weise, wie Führung ausgeübt wird.

 

Passage 1: Vom Mitarbeiter zum Teamleiter (Managing Self to Managing Others)

  • Kernaufgaben: Erfolgreiche Teamleiter sind nicht mehr primär für die eigene Leistung verantwortlich, sondern dafür, Ergebnisse durch andere zu erzielen. Sie definieren Aufgaben, delegieren, organisieren, wählen Mitarbeiter aus und entwickeln sie. Kommunikation mit dem eigenen Vorgesetzten und dem Team ist essenziell.
  • Benötigte Kompetenzen: Führungskompetenzen wie Delegationsfähigkeit, Fähigkeit zur Aufgabenplanung und -verteilung, Mitarbeiterentwicklung und -motivation. Persönliche Kompetenzen wie Verantwortungsbewusstsein, Ergebnisorientierung und Kommunikationsstärke. Methodische Kompetenzen im Bereich Projektmanagement und Teamorganisation. Kognitive Kompetenzen spielen hier noch eine untergeordnete Rolle, jedoch ist die Fähigkeit, sich in neue Themenfelder einzuarbeiten, bereits wichtig.
  • „Pipeline Turn“: Der kritische Übergang in dieser Passage liegt darin, managerielle Arbeit zu wertschätzen und nicht mehr primär operative Aufgaben selbst erledigen zu wollen. Teamleiter müssen lernen, ihre Zeit zu managen und sich auf Führungsaufgaben zu konzentrieren.

Passage 2: Vom Teamleiter zum Manager von Managern (Managing Others to Managing Managers)

  • Kernaufgaben: Manager von Managern sind für die Leistung mehrerer Teams und deren Teamleiter verantwortlich. Sie wählen Teamleiter aus, trainieren und coachen sie. Strategisches Denken gewinnt an Bedeutung, da sie über ihren eigenen Verantwortungsbereich hinausdenken und die Gesamtstrategie des Unternehmens unterstützen müssen. Ressourcenplanung und -allokation zwischen Teams werden wichtig.
  • Benötigte Kompetenzen: Führungskompetenzen wie strategisches Denken, Fähigkeit zur Führung von Führungskräften, Ressourcenmanagement und Konfliktmanagement zwischen Teams. Persönliche Kompetenzen wie Entscheidungsstärke, Durchsetzungsvermögen und Fähigkeit, ein positives Arbeitsklima zu schaffen. Methodische Kompetenzen im Bereich strategische Planung, Prozessoptimierung und Performance Management. Kognitive Kompetenzen: Complexity of Information Processing (CIP) gewinnt an Bedeutung, um komplexe Zusammenhänge zu verstehen und strategische Entscheidungen zu treffen (Mehltretter & Moyer, 2000).
  • „Pipeline Turn“: Der kritische Übergang besteht darin, Teamleiter zu entwickeln und zu befähigen, anstatt sie nur zu kontrollieren. Manager von Managern müssen lernen, Verantwortung zu delegieren und Vertrauen in ihre Teamleiter zu setzen.

 

Passage 3: Vom Manager von Managern zum Funktionsmanager (Managing Managers to Functional Manager)

  • Kernaufgaben: Funktionsmanager verantworten eine ganze Funktionseinheit (z.B. Marketing, Vertrieb, Produktion). Sie entwickeln eine Funktionsstrategie, die zur Gesamtstrategie des Unternehmens beiträgt. Teamplay und Wettbewerb mit anderen Funktionsmanagern sind entscheidend. Sie müssen komplexe Entscheidungen unter Unsicherheit treffen und langfristig denken (3-5 Jahre).
  • Benötigte Kompetenzen: Führungskompetenzen wie strategische Führung, Change Management, Innovationsmanagement, Fähigkeit zur funktionsübergreifenden Zusammenarbeit und Stakeholder-Management. Persönliche Kompetenzen wie visionäres Denken, Risikobereitschaft, Resilienz und Überzeugungskraft. Methodische Kompetenzen im Bereich Business Development, Portfolio-Management und Szenario-Planung. Kognitive Kompetenzen: CIP wird noch wichtiger, um holistisch zu denken, komplexe Szenarien zu analysieren und strategische Weichenstellungen vorzunehmen. Die Fähigkeit, analytisch und konzeptionell zu denken (Analyzing & Interpreting, Creating & Conceptualizing), wird im SHL-Modell (Bartram, 2005) besonders betont.
  • „Pipeline Turn“: Der kritische Übergang liegt darin, strategisches Denken zu entwickeln, eine langfristige Perspektive einzunehmen und die Funktionseinheit als Teil des Gesamtunternehmens zu sehen. Funktionsmanager müssen lernen, Unsicherheiten zu managen und risikobereite Entscheidungen zu treffen.

 

Passage 4, 5 und 6: Vom Funktionsmanager zum Business Manager, Group Manager und Enterprise Manager (Functional Manager to Business Manager, Group Manager to Enterprise Manager)

Auf den höchsten Hierarchieebenen (Business Manager, Group Manager, Enterprise Manager bzw. CEO) werden die Anforderungen an Führungskräfte noch komplexer und strategischer. Diese Führungskräfte verantworten gesamte Geschäftseinheiten, Unternehmensgruppen oder das gesamte Unternehmen.

  • Kernaufgaben: Entwicklung und Umsetzung der Gesamtstrategie, Portfolio-Management, Mergers & Acquisitions, Stakeholder-Management auf höchster Ebene, globale Expansion, Unternehmenskultur prägen. Sie müssen langfristig (10-50 Jahre) und in globalen Dimensionen denken.
  • Benötigte Kompetenzen: Führungskompetenzen wie visionäre Führung, strategisches Management, Change Management auf Unternehmensebene, internationale Führungserfahrung, Krisenmanagement, Fähigkeit zur Gestaltung und Steuerung komplexer Systeme. Persönliche Kompetenzen wie unternehmerisches Denken, Resilienz in extremen Stresssituationen, Fähigkeit zur Inspiration und Motivation großer Belegschaften, integres und ethisches Handeln. Methodische Kompetenzen im Bereich komplexes strategisches Management, internationale Verhandlungskompetenz, Kenntnisse in Finanzmanagement und Corporate Governance. Kognitive Kompetenzen: CIP erreicht hier ihren Höhepunkt. Führungskräfte müssen systemisch und vernetzt denken, globale Trends und Megatrends antizipieren und komplexe, abstrakte Informationen verarbeiten können (Mehltretter & Moyer, 2000). Im SHL-Modell sind hier vor allem die Kompetenzen Creating & Conceptualizing und Analyzing & Interpreting von zentraler Bedeutung (Bartram, 2005).
  • „Pipeline Turn“: Der kritische Übergang liegt darin, das Unternehmen als Ganzes zu sehen und nicht mehr nur einzelne Funktionseinheiten oder Geschäftsbereiche. Top-Manager müssen lernen, mit Unsicherheit und Ambiguität umzugehen, risikobereite Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für das gesamte Unternehmen zu übernehmen.

 

Die Rolle von Intelligenz und Complexity of Information Processing (CIP)

Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass Intelligenz und insbesondere General Mental Ability (GMA) ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Führungskräfte ist (Ones & Dilchert, 2009; Salgado et al., 2003; Lang et al., 2010; Fischer, 1980). Je komplexer die Aufgaben und je höher die Hierarchieebene, desto wichtiger wird kognitive Leistungsfähigkeit (Judge et al., 2004). Allerdings ist Intelligenz nicht der alleinige Erfolgsfaktor. Persönlichkeit, Motivation und soziale Kompetenzen spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle (Bartram, 2005).

Das Complexity of Information Processing (CIP)-Modell (Mehltretter & Moyer, 2000) beispielsweise liefert hier einen wichtigen Beitrag, indem es die Art und Weise der Informationsverarbeitung in den Fokus rückt. CIP beschreibt die Fähigkeit einer Person, mit komplexen Informationen umzugehen und diese zu verarbeiten. Mit steigender Hierarchieebene nimmt die Komplexität der Informationen zu, die Führungskräfte bewältigen müssen. CIP wird daher zu einer Schlüsselkompetenz für Top-Manager, um strategische Entscheidungen unter Unsicherheit treffen und komplexe Systeme steuern zu können.

 

Implikationen für die Gestaltung von Kompetenzniveaumodellen

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Gestaltung von Kompetenzniveaumodellen in Unternehmen und Organisationen?

  1. Differenzierung nach Hierarchieebenen: Kompetenzmodelle sollten nicht undifferenziert für alle Führungskräfteebenen. Spezifische Kompetenzprofile müssen für die unterschiedlichen Hierarchieebenen entwickelt werden, die die jeweils relevanten Anforderungen und „Pipeline Turns“ berücksichtigen. Das Leadership-Pipeline-Modell bietet hierfür einen hilfreichen Rahmen.
  2. Fokus auf Schlüsselkompetenzen: Für jede Hierarchieebene sollten die entscheidenden Schlüsselkompetenzen identifiziert und im Kompetenzmodell verankert werden. Dabei sollten kognitive, methodische, soziale und persönliche Kompetenzen gleichermaßen berücksichtigt werden. Die „Great Eight Competencies“ (Bartram, 2005) können als Basis für die Strukturierung des Kompetenzmodells dienen.
  3. Berücksichtigung von CIP: Die Complexity of Information Processing (CIP) sollte als zentrale kognitive Kompetenz für höhere Führungsebenen im Kompetenzmodell berücksichtigt werden. Geeignete Diagnoseinstrumente zur Erfassung von CIP sollten eingesetzt werden.
  4. Integration von Werten und Unternehmenskultur: Kompetenzmodelle sollten nicht nur auf Fähigkeiten und Fertigkeiten fokussieren, sondern auch Werte und kulturelle Aspekte. Die Passung der Führungskraft zur Unternehmenskultur ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor, insbesondere auf höheren Hierarchieebenen.
  5. Praxisorientierung und Flexibilität: Kompetenzmodelle sollten praxisorientiert und verständlich für Führungskräfte und Mitarbeiter gestaltet sein. Sie sollten flexibel anpassbar sein, um sich an veränderte Unternehmensstrategien und Marktbedingungen anzupassen.

 

Checkliste für die Gestaltung eines Kompetenzniveaumodells:

  • Differenzierung nach Hierarchieebenen?
  • Fokus auf Schlüsselkompetenzen pro Ebene?
  • Berücksichtigung kognitiver, methodischer, sozialer und persönlicher Kompetenzen?
  • Integration von CIP als Schlüsselkompetenz für Top-Management?
  • Berücksichtigung von Werten und Unternehmenskultur?
  • Praxisorientierung und Verständlichkeit?
  • Flexibilität und Anpassbarkeit?

 

Fazit: Kompetenzniveaumodelle als Schlüssel zum Führungserfolg

Ein differenziertes Kompetenzniveaumodell, das die spezifischen Anforderungen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen berücksichtigt, ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für Unternehmen und Organisationen, die in der komplexen Arbeitswelt von heute erfolgreich sein wollen. Durch den Einsatz geeigneter Diagnostik-Tools und die konsequente Anwendung des Kompetenzmodells in der Personalauswahl und Führungskräfteentwicklung können Unternehmen sicherstellen, dass sie die richtigen Talente an den richtigen Stellen einsetzen und ihre Führungskräfte optimal auf zukünftige Herausforderungen vorbereiten. Nur so kann das eingangs erwähnte frustrierte Zitat des HR-Managers in Zukunft vermieden und die „Blackbox“ Führungskräfteauswahl in gewisser Hinsicht erhellt werden.

 

Quellen:

  • Bartram, D. (2005). The Great Eight Competencies: A Criterion-Centric Approach to Validation. Journal of Applied Psychology, 90(6), 1185–1203.
  • Bartram, D., & Inceoglu, I. (2011). The SHL Corporate Leadership Model (White Paper Version 2.0).
  • Charan, R., Drotter, S., & Noel, J. (2001). The leadership pipeline: How to build the leadership-powered company. Jossey-Bass.
  • Fischer, K. W. (1980). A theory of cognitive development: The control and construction of hierarchies of skills. Psychological Review, 87, 477–531.
  • Judge, T. A., Colbert, A. E., & Ilies, R. (2004). Intelligence and leadership: A quantitative review and test of theoretical propositions. Journal of Applied Psychology, 89(4), 542–552.
  • Kanning, U. P. (2017). Warum Manager intelligent sein sollten. Personalmagazin, 9/2017, 28-32.
  • Kurz, R., & Bartram, D. (2002). Competency and individual performance: Modeling the world of work. In I. T. Robertson, M. Callinan, & D. Bartram (Eds.), Organizational effectiveness: The role of psychology (pp. 227–255). Chichester, UK: Wiley.
  • Lang, J. W. B., Kersting, M., Hülsheger, U. R., & Lang, J. (2010). General mental ability, narrower cognitive abilities, and job performance: The perspective of the nested-factors model of cognitive abilities. Personnel Psychology, 63(3), 595–640. https://doi.org/10.1111/j.1744-6570.2010.01182.x.
  • Mehltretter, G., & Moyer, J. (2000). Complexity of Information Processing Development Tool: Report for interpretation of Individual Data. PeopleFit Division Mehltretter Associates.
  • Ones, D. S., & Dilchert, S. (2009). How Special Are Executives? How Special Should Executive Selection Be? Observations and Recommendations. Industrial and Organizational Psychology, 2(2), 163–170.
  • Salgado, J. F., Anderson, N., Moscoso, S., Bertua, C., de Fruyt, F., & Rolland, J. P. (2003). A meta-analytic study of general mental ability validity for different occupations in the European Community. Journal of Applied Psychology, 88, 1068–1081.

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